Diese erste Version des „Leitfadens“ operiert mit einem Verständnis von systemischer Forschung, das sich an von uns vorläufig entwickelten vier Grundorientierungen systemischer Forschung (Ochs & Schweitzer, 2009) ausrichtet. Es sei jedoch betont, dass diese vier Grundorientierungen ebenfalls lediglich Entwurfcharakter besitzen und uns nur als eine Arbeitsgrundlage dienen sollen. Diese vier Grundorientierungen sind:
- Beziehungs- und Interaktionsorientierung
- Berücksichtigung intra- und interindividueller reflexiver Prozesse
- Fokussierung von Veränderungen komplexer biopsychosozialer Systemdynamiken im Zeitverlauf
- Kontextsensibilität für die interventionellen „Nebenwirkungen“ von Forschungsmaßnahmen und die Rolle der Forscher als „Miterzeuger“ der beschriebenen Prozesse.
Es ist klar: Niemand kann sich „Definitionsmacht“ anmaßen bezüglich der Frage, was Systemische Forschung ist und was nicht. Diese Plattform soll ja gerade dazu dienen, sich im Diskurs einem (multiplen) Verständnis Systemischer Forschung erst anzunähern. Unsere bisherigen ersten Überlegungen, Fragen und Hypothesen zu diesem Thema lassen sich folgendermaßen bündeln:Die Frage, was Systemische Forschung ist, lässt sich wahrscheinlich nicht dichotom beantworten – etwa im Sinne der Erstellung von Kriterien, die systemische von nicht-systemischer Forschung unterscheiden. Möglicherweise können konkrete Forschungsvorhaben eher danach beurteilt werden, in welchem Ausmaß systemische Aspekte (wie etwa Kontextorientierung, Berücksichtigung der Beobachterperspektive des Forschers oder Verwendung von Forschungsmethoden, die die Beschreibung und Erfassung von Systemkomplexität ermöglichen) und welche systemischen Aspekte berücksichtigt wurden.
- Kann überhaupt noch als Systemische Forschung gelten, wenn mit kausal-linearen statistischen Konzepten mit positivistischen Grundannahmen gearbeitet wird, also etwa statistische Signifikanztests gerechnet wird? Sind etwa kontrollierte Untersuchungen mit gesteuerter Zufallsverteilung der Probanden zu Untersuchungsgruppen (RCT-Studien) und mit ihrer experimentellen Logik der Ausschaltung von Außeneinflüssen und Störfaktoren, wie sie zur wissenschaftlichen Anerkennung systemischer Therapie/Familientherapie durch den Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie beigetragen haben (v.Sydow et al. 2007), noch systemtheoretisch sinnvoll unter Systemischer Forschung einzuordnen?
- Erscheint es überhaupt sinnvoll von Systemischer Forschung zu sprechen? Sollte nicht besser von der Erforschung sozialer Systeme mit bekannten Methoden der qualitativen und quantitativen Forschung gesprochen werden?
- Kann letztlich nicht eigentlich nur das als Systemische Forschung gelten, wenn sich auch „an die Regeln der Kybernetik 2. Ordnung“ gehalten wird, also der Beobachter, der sich selbst beim beobachten beobachtet, forscherisch einbezogen, berücksichtigt und „operationalisiert“ wird?
- Oder kann schon von Systemischer Forschung gesprochen werden, sobald soziale Einheiten (z.B. die Familie, das Paar, eine Arbeitsgruppe) im Zentrum der Forschung stehen, also etwa eine Untersuchung mit einem Ehezufriedenheits- oder Teamklima-Fragebogen durchgeführt wird?
- Kann vielleicht nicht einfach die Erforschung der systemischen Praxis als Systemische Forschung gelten? Aber wie ist es dann mit der systemisch ausgerichteten Forschung nicht-systemischer Praxis?
Diese Fragen und Überlegungen lassen sich sicherlich noch ergänzen. Es erscheint uns wichtig darauf hinzuweisen, dass bei der Lektüre des Entwurfs des „Leitfadens“ bedacht werden sollte, dass das Verfassen desselben vonstatten ging, ohne dass wir diese Fragen bereits beantwortet oder unsere Überlegungen zur Frage, was Systemische Forschung sein kann, bereits ausgearbeitet hätten.