Nun, man kann das so sehen. Muss man aber nicht:
1. Zum einen hilft Systematik, Dinge zu erkennen und zu beobachten, die einem ansonsten „durch die Lappen gehen“ würden.
Um dies zu erfahren, eignen sich kleine Selbstexperimente, bei denen man systematische Aufzeichnungen in einem Bereich des eigenen (Berufs-)Lebens macht, wo man dies bisher noch nicht getan hat. (Wenn Sie gewohnt sind sehr systematisch Ihre Beratungen zu dokumentieren, dann würde dieser Bereich ihrer Arbeit etwa nicht in Frage kommen.):
- Zeichnen Sie z.B. einmal zwei Wochen lang immer vorm zu Bett für max. 10 Minuten in ein extra hierfür angelegtes kleines Journal ihre emotionalen Eindrücke ihres Familienlebens vom Tag auf (da emotionale Eindrücke innere Prozesse sind, ist dies unabhängig davon, ob reale Interaktionen mit Familienmitgliedern stattgefunden haben oder nicht). Dieses kleine Experiment kann dadurch ein wenig systemisch „aufgepäppelt“ werden, indem Sie zudem die vermuteten emotionalen Verfasstheit Ihrer Partnerin/Ihres Partners oder Ihrer Kinder ebenfalls notieren.
- Zeichnen Sie einen Monat lang einmal täglich zur ungefähr selben Uhrzeit Ihre Stimmung auf einer numerischen Ratingskala von 0 bis 10 auf – wobei 0 „völlig miserabel“ und 10 „best möglich“ bedeutet.
- Zeichnen Sie für eine Woche zum Ende des Arbeitstags alle beruflichen Interaktionen auf, die sie hatten, mit ungefährer Zeitangabe zur Dauer und zum Inhalt in Stichworten.
Diese kleinen Selbstexperimente können Sie im nächsten Schritt auch selbst auswerten: Die Aufzeichnungen zum gefühlten Familienleben oder die Inhalte der beruflichen Interaktionen können mit einer Art abgespeckten qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet werden: Gibt es bestimmte, in den Aufzeichnungen vorkommende Gefühlswörter oder Interaktionsinhalte, die sich ähneln? Welche Gefühlsqualitäten oder Interaktionsthemen kommen in den Aufzeichnungen am häufigsten vor? Die Ratingskalen-Werte zur täglichen Stimmung können in ein einfaches kartesisches Koordinatenkreuz eingetragen werden (auf der y-Achse würden die Werte der Ratingskala von 0 bis 10 aufgetragen, auf der x-Achse die Tage) und schon haben Sie eine einfache Zeitreihe. Diese können Sie dann nach diskontinuierlichen Sprüngen, periodischen Schwankungen oder stabilen „Attraktoren“ abklopfen.
Hat dieses Experiment einen Unterschied gemacht und zu neuen Erkenntnissen etwa bezüglich ihrer Familiengefühle, Ihrer Tagesstimmungen, ihrer Berufskontakte geführt?
2. Methodisch-systematisches Vorgehen muss überhaupt nicht langweilig sein, es kann auch sehr unkonventionelle Ansätze beinhalten.
a) Studieren Sie z.B. einmal folgende Systematik zum Forschungsvorgehen im Rahmen heuristischer Forschung (Moustakas, 1990):
1. Anfängliche Begeisterung/Anbindung
Hierbei geht es darum Leidenschaft und Begeisterung für ein Forschungsthema bei sich selbst zu entdecken, dass auch für andere Menschen bedeutsam ist. Die „innere Dialog“-Technik kann dabei helfen, das Forschungsthema für sich selbst zu erkunden und Forschungsfragen, die einem selbst wirklich wichtig bei dem Thema sind zu entdecken, hierbei lässt der Forscher sich vor allem von seiner Intuition leiten.
2. Versenken/Eintauchen in das Thema
Hierbei geht es darum, dass der Forscher seine Forschungsfrage „lebt“, d.h. sie ständig mit sich trägt, beim Arbeiten, Spaziergehen, beim Schlafen, beim Träumen. Dass er in allem, was ihm begegnet (z.B. beim Einkaufen, beim Gespräch mit Freunden, in der Straßenbahn), Möglichkeiten erkennt, die Fragestellung zu erkunden. Methodisch kann dies durch spontane Selbst-Dialoge oder Selbsterfahrung oder Erfahrungen in der Stille geschehen.
3. Einarbeitung/Ansteckung
Ziel ist, dass sich jenes, was sich beim Versenken und Eintauchen in das Thema aufgetan hat, klären und ausbreiten kann. Allerdings weniger in einem bewussten Prozess, sondern eher in der Form, dass nun neue Zusammenhänge spontan entstehen können. (Beim Spazieren gehen plötzlich etwas entdecken)
4. „Erhellung“
„Erhellung“ eröffnet die Tür zu neuen Möglichkeiten der Achtsamkeit bezüglich des Themas, der Modifikation von überholtem Wissen, zur Zusammenschau von fragmentiertem Wissen oder zur Neuentdeckung von etwas, was bereits schon länger vorhanden ist, aber der bewussten Aufmerksamkeit entging.
5. Explikation
In der Explikationsphase geht es darum, all das, was sich bisher ergeben hat, in seiner ganzen Breite und seinem Detailreichtum zu untersuchen und in einer kompletteren Rahmung zu fassen. Hierbei können Techniken wie Focussing hilfreich sein.
6. Kreative Zusammenschau
Kann nur durch die Kraft der Stille und Intuition erreicht werden. Dies kann dann in Form einer Aufzeichnung geschehen (Forschungsbericht), aber auch als Gedicht, Geschichte oder Gemälde.
b) Autoethnographie ist ein qualitatives Verfahren bei dem man quasi sich selbst im soziokulturellen Kontext erforscht. Autoethnographische Forschungsvorhaben könnten etwa sein:
- meine Erfahrungen als Leiter einer Beratungsstelle
- meine Teilnahme an einer Betriebsversammlung
- mein Erleben bei der Suche nach einem Arzt für diffuse körperliche Beschwerden
- mein Erleben und mein Sinnkonstruieren im Rahmen eines Forschungsvorhabens
Das methodologische Vorgehen bei Autoethnographie variiert stark von Forschungsprojekt zu Forschungsprojekt. Es gibt noch keinen „Methodenkanon“, da dieser Ansatz noch recht neu im Kontext der sozialwissenschaftlichen Forschung erscheint: So gibt es einerseits autoethnographische Texte die wie Autobiografien verfasst sind und andererseits autoethnographische Forschungsartikel, die auf sehr strukturierte Dokumentationen des eigenen Erlebens im sozialen Kontext basieren (Wall, 2006).
Unterschiedliche Möglichkeiten, das Kriterium der Systematik und Nachvollziehbarkeit zu verwirklichen
Dieses Kriterium methodischer Systematik und Nachvollziehbarkeit von Forschung kann auf sehr unterschiedliche Weise verwirklicht werden, z.B.:
- Durch den systematischen Einsatz von testtheoretisch konstruierten Fragebögen, z.B. etwa wenn in einer Jugendhilfeeinrichtung sämtliche Sorgeberechtigte bei Aufnahme eine Child Behavior Checklist vorgelegt bekommen.
Systematik und methodologische Nachvollziehbarkeit ist dadurch verwirklicht, dass zum einen bei allen Neuaufnahmen der Fragebogen ausgegeben wird. Zudem handelt es sich bei der CBCL um ein Messinstrument, dass testtheoretisch extrem gut evaluiert und konstruiert ist – auch dadurch kann methodologische Nachvollziehbarkeit, nämlich durch die Anwendung von Testtheorie, hergestellt werden.
- Durch systematisches Notizenmachen bei der Etablierung einer neuen Clearing-Gruppe in der Jugendhilfe (z.B. alle zwei Tage, von jeder Teamsitzung, einmal pro Woche für eine Stunde Notizen anfertigen) nach einem bestimmten Aufzeichnungssystem, z.B. eine Spalte für Beobachtungsnotizen, eine Spalte für theoretische/konzeptuelle Überlegungen, eine weitere für sonstige, z.B. persönliche Anmerkungen, oder folgende Dokumenationssystematik, siehe hierzu auch Elstner et al., 2007, S. 10:
Die Auswertung der Notizen kann dann auch systematisiert erfolgen, z.B. indem die Notizen nach wiederkehrenden Interaktionsmustern oder weiteren inhaltsanalytischen Aspekten durchforstet werden.
Systematik und methodologische Nachvollziehbarkeit wird dadurch hergestellt, dass die Aufzeichnungen zum einen nach einer chronologischen Systematik bzw. einem inhaltlich plausiblen Kriterium (Teamsitzung), das durchgehalten wird, stattfinden. Außerdem hat die Art und Weise des Notizenmachens Systematik und Methode. Darüber hinaus findet die Auswertung nach einer nachvollziehbaren und transparenten Methode statt.
Viele Qualitative Ansätze beinhalten ein systematisches Vorgehen bei der Erfassung von „Daten“ (wobei manche meinen, dass der Terminus „Daten“ bereits eine Art ungute Reminiszenz an quantitative Forschung darstelle). Ein systematisches Vorgehen bei der Datenerfassung erleichtert, „Dinge zu sehen“, die bei einem weniger systematischen Vorgehen aufgrund der Komplexität des Gegenstandsbereichs schnell übersehen werden können.
- Durch das Führen offener, narrativer Interviews innerhalb einer Coaching – Ausbildungsgruppe, wobei lediglich ein sehr grobes Interviewvorgehen vorgegeben ist (z.B. eine Eröffnungsfrage, einen Modus für Nachfragen, falls der Erzählstrom ins Stocken gerät…). Ein Beispiel hierfür wäre die Systematik für narrative lebensgeschichtliche Interviews in Form von vier Modulen von Sieder (2008, S. 69-71):
1. Modul: Das Gespräch beginnt mit einer Einladung zu erzählen. Es wird angekündigt, dass im ersten Teil des Gesprächs keinerlei Zwischenfragen gestellt werden, und der Zeitrahmen hierfür wird vage umrissen
2. Modul: Immanentes oder narratives Nachfragen („Sie haben gesagt …, können Sie mir noch genaueres darüber erzählen?“, „…können Sie sich in diese von Ihnen erwähnte Situation zurückversetzen und genauer erzählen, wie es Ihnen dabei ergangen ist?“ etc.)
3. Modul: zirkuläre Fragen: Vorstellungen von imaginierten Anderen und Abwesenden erfragen
4. Modul: Erfragen von auf die nächste und fernere Zukunft gerichtete Erwartungen, Ängste und Hoffnungen der beteiligten
Selbst sehr offene, wenig strukturierte Vorgehensweisen bei der Datenerhebung können systematisch und methodologisch nachvollziehbar konzipiert werden: Es muss lediglich begründet werden, aus welchen (nachvollziehbaren) Gründen so vorgegangen wird und wie dieses Datenmaterial dann ausgewertet wird…
Die Beispiele sollten deutlich machen, dass Transparenz und methodische Stringenz notwendig sind – zur Ausgestaltung dieser Prinzipien allerdings vielfältigste, kreative Vorgehensweisen denkbar und sogar erforderlich sind.