Multi-, Inter- und Transdisziplinarität sind Begriffe und Konzepte, die im Kontext systemischen Arbeitens und Forschens immer wieder Verwendung finden. Denn Vernetzung, Kooperation und Kontextualisierung, allesamt Kernbegriffe systemischer Theoriebildung und Praxeologie, lassen sich nur schwer in monodisziplinären Bezügen vorstellen. Gleichzeitig werden die genannten drei Konzepte nicht immer trennscharf voneinander benutzt. Multidisziplinäres Arbeiten bedeutet in Abgrenzung zu Inter- und Transdisziplinarität die nebenläufige Bearbeitung eines Problems voneinander unabhängiger Disziplinen und Professionen, ohne das aber ein integratives Zusammenfügen oder gemeinsame Methoden notwendigerweise Anwendung finden müssen. Interdisziplinarität meint mehr, nämlich kooperative Zusammenführung und Zusammenarbeit der Methoden und Erkenntnisse unterschiedlicher Disziplinen. Transdisziplinäres Vorgehen meint noch mehr und kann zweierlei heißen: Einerseits kann dies bedeuten, dass ein universelles theoretisches Einheitsprinzip im Disziplinen-Crossover von Natur-, Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften zum Einsatz kommt; ein solches Einheitsprinzip stellt etwa Systemtheorie dar, weshalb manche systemisch ausgerichtete Forscher, wie etwa Günter Schiepek, die Forderung aufstellen, dass systemisches Forschens immer transdisziplinär sein sollte. Anderseits kommt der Begriff Transdisziplinarität zum Tragen, um Wissenschaftsprogramme zu kennzeichnen, die die Grenzen zwischen Forschung und Praxis überschreiten, oft, um an gesellschaftlich relevanten und sensiblen Themen zu arbeiten.
Der vorliegende Herausgeberband der an der Alpen-Adria-Universität in Klagenfurt arbeitenden promovierten Psychologin Elisabeth Reitinger „Transdisziplinäre Praxis. Forschen im Sozial- und Gesundheitswesen“ des „Verlags für Systemische Forschung“, einem auf die Publikation von systemisch orientierten Abschlussarbeiten mit wissenschaftlichem Anspruch spezialisierten Ableger des bei vielen systemischen Praktikern beliebten „Carl Auer-Verlags“ in Heidelberg, bezieht sich auf letztgenanntes Verständnis von Transdisziplinarität. Es werden die Erfahrungen verschiedener Forschergruppen mit einem transdisziplinären Ansatz im Kontext des Methodenprogramms TRAFO (transdisziplinäres Forschen), das vom österreichischen Wissenschaftsministeriums 2005-2007 gefördert wurde, berichtet. Und tatsächlich geht es interessanterweise bei den 15 Beiträgen des Bands mehr um die subjektiven und gemeinsamen Erlebnisse der Forscherinnen und Forscher mit diesem speziellen Ansatz des Forschens, als um das Vorstellen der genuinen Resultate und Befunde zu ihren bearbeiteten wissenschaftlichen Fragestellungen, die eigentlich auch recht spannend sind (so geht es in den fast ausschließlich qualitativ ausgerichteten Einzelforschungsprojekten des Programms etwa um die Erfahrungen von Patienten mit Homöopathie, das Erleben von Leitungspersonen von Hospizen, das Thema „Waschen“ in der Alten- und Krankenpflege und andere eben gesellschaftlich neuralgische Gegenstandsbereiche). So werden Herausforderungen, Probleme und Chancen ausführlich beschrieben, die entstehen, wenn Wissenschaftler „ins Feld“ gehen und mit den echten Leuten „da draußen“ zusammenarbeiten (müssen) – und vice versa. Milena Bister und KollegInnen verdeutlichen in ihrem Beitrag etwa, dass transdisziplinäres Forschen Ressourcen an Zeit, Geld und Personal benötigt, wenn tatsächlich eine tragbare kommunikative und Arbeitsbasis zwischen Forschern aus dem Elfenbeinturm und den Kooperationspartnern in den Gemeinden, Kommunen und Institutionen hergestellt werden soll. Ein schöner Artikel des Bands (von Ursula Karl-Trummer und Sonja Novak-Zezula) versucht, dieses Forschungs-Praxis-Dilemma kreativ mit der in systemischen Kreisen bekannten Tetralemma-Methode zu bearbeiten – mit nutzbringenden Ergebnissen für einen konstruktiven transdisziplinären Forschungsprozess und als Output mit einer Liste zum Schmunzeln, wie man transdisziplinäres Forschen garantiert zum Scheitern führen kann. Und weil wir Systemiker solche Listen so lieben, sei selbige, die „Liste der 11 Gebote transdisziplinären Scheiterns“, hier aufgeführt:
1. Definieren Sie zu Projektbeginn klare Ziele und Wege dorthin und halten Sie konsequent daran fest, egal was passiert.
2. Gehen Sie davon aus, dass der/die andere hört, was Sie sagen und versteht, was Sie meinen.
3. Machen Sie von Anfang an klar, dass Ihre Anliegen die wichtigsten sind.
4. Nutzen Sie Ihre Expertise, um sich durchzusetzen, lassen Sie sich nicht auf langwierige Diskussionen ein.
5. Bleiben Sie immer hart beim Thema und ignorieren Sie soziale und emotionale Signale.
6. Bleiben Sie immer Profi – Sie als Mensch gehen niemanden etwas an.
7. Machen Sie klar, dass die Wissenschaft von der Praxis nichts versteht und umgekehrt.
8. Thematisieren Sie zu Projektbeginn noch nicht die heiklen Themen, verlassen Sie sich Sie Unangenehmes den Partnern im Projektverlauf unterjubeln können.
9. Treffen Sie keine klaren Vereinbarungen, das schafft Freiraum für alle.
10. Seien Sie ergebnisorientiert, nicht prozessorientiert, und denken Sie immer daran, der Zweck heiligt die Mittel.
11. Definieren Sie Entweder-Oder-Entscheidungen, denken Sie nicht über faule Kompromisse nach.
Abschlussberichte von Forschungsprojekten, an denen mehrere Forschergruppen mitwirkten, als Buch zu veröffentlichen, kann ein zweischneidiges Schwert darstellen: nicht selten entsteht gähnende Langweile oder Ärger etwa angesichts leser-/benutzerunfreundlich und schlecht aufbereiteter Methoden- und Ergebnisdarstellungen. Anders hier: Dieses Buch ist wirklich allen zu empfehlen, die als Wissenschaftler mit den Leuten reden und arbeiten wollen, um mit diesen gemeinsam Fragestellungen zu bearbeiten, die vor Ort gewissermaßen unter den Nägeln brennen – aber generell auch allen Systemikern, die Forschung und Praxis verbinden wollen. Denn es erspart ihnen im Forschungsprozess viele frustrierende Erfahrungen und Umwege (auch wenn diese bekanntlich die Ortskenntnis erweitern – aber eben auch nicht selten mehr Geld kosten).
Matthias Ochs, Wiesbaden