Vom 11. – 13. 10. 2010 fand zum 16ten Mal die „Herbstakademie“ statt. Die Herbstakademie kann als interdisziplinäres Forum von Wissenschaftlern verstanden werden, die ihre Arbeit in den Kontext der synergetischen Systemtheorie stellen. Sie findet seit 1990 in ein- oder zweijährigem Abstand statt und ist von Prof. Günter Schiepek, Prof. Wolfgang Tschacher und Prof. Ewald Johannes Brunner begründet worden. Der vorliegende Herausgeberband dokumentiert die 16te Herbstakademie, die sich dem Thema der „Selbstorganisation von Wissenschaft“ widmete.
Auch wenn Tagungsbände nicht selten eine zweischneidige Angelegenheit sind, sowohl für die beitragenden Autoren (keine Impact-Faktoren, keine Autorenhonorare) als auch für die Leser (lieblos zusammengeschusterte Einzelbeiträge, fehlender, die Einzelbeiträge verbindender roter Faden) und die Verlage (verkaufen sich nicht sonderlich gut), so ist diese Dokumentation der Herbstakademie doch in vielerlei Hinsicht sehr zu empfehlen.
Ein großes Verdient der Herbstakademien ist es, nationale und international renommierte Wissenschaftler verschiedenster disziplinärer Provenienz, die sich mit Selbstorganisationstheorien beschäftigen, zusammenzubringen. Systemische Praktiker steht somit ein wirklich einzigartiges Forum zur Verfügung, um die eigene psychosoziale Praxis auch in einen größeren multi-, inter- und transdisziplinären Kontext einzuordnen. Im vorliegenden Band sind beispielsweise folgende Fächer vertreten: Geschichte der Naturwissenschaften, Kulturbetriebslehre, Organisationspsychologie, Wirtschaftswissenschaften, Philosophie, Vergleichende Pädagogik, Theoretische Physik, Klinische Psychologie. Diese Disziplinen übergreifende Zusammenschau kann Systemische Praktiker etwa zu der faszinierenden Erkenntnis verhelfen, dass die konzeptionellen Grundlagen ihres professionellen Handelns (wie z.B. Komplexität, Dynamik, Kontextgebundenheit, Selbstorganisation) sich in fast allen Disziplinen wiederfinden lässt – und dazu anregen, die wissenschaftliche Begründetheit ihrer Praxis auch in diesem umfassenderen Sinne zu begreifen.
Über die Inhalte der einzelnen Beiträge wurde schon an andere Stelle in einem Tagungsbericht informiert, etwa über die innovative Arbeit von Tschacher, Bischkopf und Tröndle zu dem Kunstprojekt „eMotion“ oder der schöne Überblick von Artmann zu „Strukturwissenschaften als Instrumente der Selbstorganisation“. Einzelne Arbeiten des vorliegenden Tagungsbands haben es dennoch sehr verdient, hervorgehoben zu werden, allen voran jene der vier beitragenden Emeriti:
Prof. Jürgen Kriz, Emeritus der Universität Osnabrück, hat bekanntlich wesentliche Pionierarbeiten geleistet was die Anwendung von Selbstorganisationstheorien im Kontext Klinischer Psychologie angeht. Sein Beitrag stellt etwa seine aktuellsten theoretischen Überlegungen hierzu vor, nämlich das Konzept der „Bedeutungsfelder und Synlogisation“; zudem berichtet er von einem spannenden synergetischen „Feldexperiment“ im Wissenschaftssystem bezüglich der wissenschaftlichen Anerkennung der Gesprächspsychotherapie. Prof. Bernd-Olaf Küppers, Emeritus am Institut für Philosophie der Friedrich-Schiller-Universität Jena, beleuchtet in seinem fesselnden Artikel wissenschaftshistorische Aspekte, die zur Begründung der Strukturwissenschaften, zu der auch die Selbstorganisationstheorien zu rechnen sind, beigetragen haben. Ein Highlight des Bands ist die Arbeit von Prof. Wolfgang Krohn, Emeritus am Institut für Wissenschafts- und Technikforschung der Universität Bielefeld. In dieser beleuchtet er Wissenschaft als gesellschaftliches Funktionssystem im Sinne von Niklas Luhmann. Hierzu unterscheidet er zunächst klugerweise Wissenschaft und Forschung, geht anschließend auf die spezifische Dynamik von Forschungsförderung und wissenschaftlicher Institutionsbildung ein, um abschließend das Funktionssystem im Kontext der sog. Wissensgesellschaft zu reflektieren. In dem abschließenden Beitrag beschäftigt sich Prof. Ewald Johannes Brunner, Emeritus am Institut für Erziehungswissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena mit der Frage, wie ein Transfer von wissenschaftlichen Erkenntnissen in Gesellschaft und Politik möglich sein kann. Gerade die Erkenntnisse der Systemwissenschaften werden immer noch viel zu wenig in den Anwendungsfeldern etwa der Pädagogik, Psychologie oder Beratung rezipiert und konsequent umgesetzt – und warum dies so ist, lässt sich gerade auch aus der Perspektive der Selbstorganisationstheorien gut nachvollziehen, wie Brunner zeigt. Er schließt seinen Beitrag dennoch mit dem schönen, ermutigenden Satz: „Allen „selbstorganisierten Hindernissen“ zum Trotz kann die Dynamik gesellschaftlicher Veränderungen auch durch kluge und kreative Aktivitäten von Wissenschaftlern ins Rollen gebracht werden“.
Matthias Ochs