Dr. Harald Tuckermann, wissenschaftlicher Mitarbeiter am „Institut für Systemisches Management und Public Governance (IMP)“ an der Universität St. Gallen, unternimmt mit diesem Buch den löblichen und gelungenen Versuch, einige Möglichkeiten und Fallsticke aufzuzeigen, die bedeutsam werden können, wenn man im Kontext von Organisationen mit einer systemischen Brille – genauer einer systemischen Brille a la Luhmann – Forschung betreiben möchte. Er schlägt hierzu einen spezifischen, von ihm entwickelten Forschungsrahmen vor: Die reflexive systemische Forschungsheuristik (RSF-Heuristik). Dieser Forschungsrahmen wird durch vier Aspekte gekennzeichnet, die näher erläutert werden: 1. Das Element „Beobachtung“ (hierbei wird betont, dass Forschung als wechselseitig-zirkuläre Beobachtung des Forschers und der Beforschten beschrieben werden kann); 2. Die Sozialdimension (hier wird das Verhältnis von Forschenden und Praxispartnern mit unterschiedlichen Anliegen, „Eigenlogiken“ und Orientierungen als relevante Umwelt des Forschungssystem thematisiert, etwa im Sinne transdisziplinärer Forschung (vgl. Reitinger, 2008) mit all ihren spezifischen Herausforderungen); 3. Fahndung nach Latenz im Forschungssystem („Latenz verweist auf das, was ein Beobachter erster Ordnung nicht beobachten kann“ (S.39). Luhmann (1991, S. 66) ergänzt, dass systemtheoretisch das „ …die Unterscheidung (ist), die er [der Beobachter] seinem Beobachten zugrunde legt“ – und eben von einem Forscher beobachtet werden kann.); 4. Die Zeitdimension (Forschung hat ein Anfang und ein Ende – und die Daten die zwischen diesen Markierungen erhoben werden sind eben von diesem zeitlichen und situativen Kontext abhängig).
Tuckermann veranschaulicht diese RSF-Heuristik am Beispiel eines Forschungsprozesses im Zusammenhang mit einer Veränderungsinitiative im Pflegebereich, die im Zuge einer Krankenhausfusion stand. Diese Veranschaulichung strukturiert er ausführlich anhand der vier Dimensionen „Feldbeziehung“, „Forschung“, Organisation“ und „Wissenschaft“.
Im letzten Kapitel diskutiert Tuckermann dann nochmals offene Fragen und Entscheidungsbedarfe systemischer Organisationsforschung; besonders erwähnenswert ist hierbei sein Vorschlag zu Gütekriterien systemischer Organisationsforschung (S. 109), die eine wichtigen Beitrag dazu leisten können zur „Anschlussfähigkeit“ systemischer Forschung a la Luhmann an die eher an den landläufigen sozialwissenschaftlichen Forschungsmethoden orientierten wissenschaftlichen Umwelt.
Auch wenn wir es hier mit den bekanntlich teils ein wenig sperrigen, weil sehr abstrakten Theoriekonstruktionen der soziologisch-autopoietischen Systemtheorie zu tun haben, gelingt es Tuckermann ein durchweg gut und leicht zu lesendes Büchlein vorzulegen – ohne dabei der Komplexität des Gegenstands nicht mehr gerecht zu werden. Allein dies ist schon sehr zu goutieren und lässt den sehr profunden Kenner der Materie deutlich werden. Darüber hinaus stellt diese Arbeit einen weiteren wichtigen Schritt (neben etwa u.a. den beiden Arbeiten von Dirk Baecker sowie Audris Muraitis/ Arist von Schlippe im „Handbuch Forschung für Systemiker“ (Ochs & Schweitzer, 2012)) dar auf dem Weg zu illustrieren, dass ein Forschen a la Luhmann möglich ist – und zwar jenseits eines daten- und empiriefernen „Epistobabbels“ nach einer transparenten, systematischen Methodologie. Diese Methodologie ist in der qualitativen Forschung verwurzelt und versucht deren Methodenangebote anzuwenden, um Komplexität im Rahmen einer Kybernetik 2. Ordnung empirisch zu erkunden. Sie ist deshalb nicht weniger „wissenschaftlich“, nicht weniger empirisch, als etwa eine auf quantitativen Methoden fußende experimentelle RCT-Studie zu einer systemischen Intervention. Diesen Spannungsbogen gilt es „auszuhalten“, wenn man sich mit der Frage beschäftigt, was Systemische Forschung alles sein kann.
MO
Literatur:
Luhmann, N. (1991). Wie lassen sich latente Strukturen beobachten? In P. Watzlawick u. P. Krieg (eds.), Das Auge des Betrachters: Beiträge zum Konstruktivismus. Festschrift für Heinz von Foerster. (61-74). München: Piper.
Ochs, M. & Schweitzer, J. (Hrsg.) (2012). Handbuch Forschung für Systemiker. Göttingen: V&R.
Reitinger, E. (Hrsg.) (2008). Transdisziplinäre Praxis. Forschen im Sozial- und Gesundheitswesen. Heidelberg: Carl Auer.