Konstruktivismus/Konstruktionismus stellt bekanntlich neben selbstreferentiellen und dynamischen Systemtheorien das theoretische Fundament systemischer Beratungs- und Therapiekonzepte dar. Deshalb ist der Konstruktivismus/Konstruktionismus für den systemischen Ansatz absolut basal. Aber: Kann man konstruktivistisch überhaupt forschen? Sind Konstruktivismus und Forschung nicht Konzepte die sich quasi gegenseitig ausschließen? Auf der einen Seite der gleichsam philosophische Ansatz, der die Subjekt- und Perspektivabhängigkeit jeglicher Erkenntnis postuliert; auf der anderen Seite der wissenschaftliche Zugang zur Welt, den nur dann Sinn macht zu verfolgen, wenn er über subjektiven Perspektivismus hinausweisen kann…
Genau an der Verbindungsstelle zwischen diesen beiden Konzepten versucht der vorliegende Sammelband anzusetzen. Er stellt vornehmlich sich qualitativer Methodik bedienende Forschungansätze dar, die explizit konstruktivistische Momente in ihrem Vorgehen und ihrer Logik berücksichtigen. Die meisten der beitragenden Autoren sind in den Vereinigten Staaten an Universitäten tätige Soziologen und Sozialwissenschaftler.
Einführend beschäftigen sich in den ersten beiden Teilen des Bands die Autoren mit den philosophischen und wissenschaftsgeschichtlichen Grundlagen des Konstruktivismus und loten dessen Relevanz in verschiedenen Disziplinen und Forschungsgebieten, wie etwa Kommunikationsforschung, Pädagogik, Organisationsentwicklung, psychologische Forschung (übrigens von Kenneth Gergen und Ehefrau) aus. Anschließend finden sich Beiträge, die verschiedene Ausrichtungen verdeutlichen, von denen aus sich konstruktivistische Forschungsansätze her anbieten, wie beispielsweise Diskursanalyse, Foucaultscher
Strukturalismus oder Medienwissenschaften. Der vierte – und aus Forschungsperspektive interessanteste – Teil geht dann auf spezifische Forschungsstrategien und –methoden ein (z.B. Ethnographie, Grounded Theory, Dokumentenanalyse). Die hier versammelten Artikel sind sehr lesenswert, da sie Logiken und Überlegungen vermitteln, wie sich konstruktivistische Forschung vorgestellt werden kann. Wer hier allerdings „How to do“-oder Step by Step“- Anleitungen sucht, der wird enttäuscht werden. Ob das eine Stärke oder Schwäche des Bands darstellt, mag dahin gestellt sein. Deutlich wird jedenfalls, dass Kenntnis mit qualitativen Forschungsmethoden sowie die Kompetenz, diese kreativ und methodologisch „sauber“ im
Zusammenhang mit konstruktivistischen Ansätzen umzusetzen, von Nöten ist, wenn man „konstruktivistisch forschen“ möchte. Konstruktivistische Forschungsmethoden lassen sich also nicht einfach „anwenden“, wie etwa ein vorgefertigter Fragebogen, sondern erfordern Auseinandersetzung mit der Verschränkung von Forschungsmethodik und zu beforschendem Gegenstandbereich. Im fünften und sechsten Teil des Buches finden sich dann noch teils gerade für im Gesundheits- und Sozialbereich tätige Systemiker sehr lesenswerte Arbeiten, wie etwa zu „The Social Construction of Emotion“, „Constructing Therapy and Its
Outcomes“ oder „Constructions of Medical Knowledge“.
Insgesamt ist dieser über 800 Seiten starke Herausgeberband eine regelrechte Fundgrube und
Inspirationsquelle für an interdisziplinärem Konstruktivismus und Forschung interessierte
Systemiker.
M. Ochs