Dieser von Douglas H. Sprenkle und Fred P. Piercy herausgegebene Band „Research Methods in Family Therapy“ erschien 2005 in einer zweiten, völlig überarbeiteten Auflage, mit neuer Systematik und neuen Beiträgen. Er setzt Standards im Kontext systemisch-familientherapeutischer Forschung – und zwar in mehrfacher Hinsicht:
– Der Band stellt eine für das systemisch-familientherapeutische Feld einmalige Breite von qualitativen und quantitativen Forschungsmethoden vor: Die Palette reicht von etwa ethnografischen Einzelfallstudien, über Grounded Theory und Delphi Methoden bis zu komplexen quantitativ-statistischen Untersuchungsansätzen, wie beispielsweise Multilevel Growth Modeling oder Covariance Structure Analysis. Diese Forschungsmethoden sind alle größtenteils im Kontext psychosozialer und psychologischer Forschung bereits gut etablierte Untersuchungsansätze. Bemerkenswert ist, dass sowohl sozial- und kulturwissenschaftliche, als auch naturwissenschaftlich orientierte Methoden sozusagen friedlich nebeneinander stehen. Ein leichter Schwerpunkt liegt allerdings bei den qualitativen und den gemischten (qualitativ und quantitativ) Methoden. Dies hängt möglicherweise damit zusammen, dass viele systemisch-familientherapeutisch ausgerichtete Forscher mit einem Standbein, wenn nicht mit dem Hauptstandbein, in der Praxis mit ihrem schwerpunktmäßig verbalen Zugang zum Gegenstandsbereich stehen.
– Dieser Pluralismus an Untersuchungsmethoden ist zudem mit Implikationen verbunden, was unter systemisch-familientherapeutischer Forschung subsumiert und verstanden werden kann: Nicht spezifische Forschungsmethoden stellen demnach definitorische Kriterien dafür dar, was systemischer Forschung sein kann und was nicht, sondern eher der Gegenstandsbereich (Familien, mikrosoziologische Einheiten). Diese Methodenvielfalt steht zudem im guten Einklang mit einer der Grunddimensionen systemischer Konzepte, nämlich Multiperspektivität (auch wenn Multiperspektivität und Meltumethodalität nicht synonym sind) sowie respektvolle Kooperation (und nicht monomethodisches Hegemonialstreben).
– Der Aufbau der Artikel folgt einer Systematik, die versucht zu veranschaulichen, in welchen Kontexten, für welche systemisch-familientherapeutische Fragestellung und mit welcher Methodologie der jeweilige Forschungsansatz gut Verwendung finden kann. Mit anderen Worten: Der an Forschung interessierte systemische Praktiker erhält eine Reihe an qualitativen und quantitativen Optionen, wie er sich wissenschaftlich einen Gegenstandsbereich lege artis nähern kann.
– Die Herausgeber baten die Autoren wohl darum, eine Einleitung für ihren jeweiligen Artikel zu wählen, die den potentiellen Leser auf kreative oder auch persönliche Art auf die jeweilige Forschungsmethode einzustimmen – was auch größtenteils gelungen ist (und das bei dem eher mit Langweile und Trockenübung verbundenen Thema Forschung…). Ein Beispiel hierfür ist etwa folgende Einführung zum Artikel „The Use of Phenomenology for Family Therapy Research: The Search for Meaning“, der mit folgendem Absatz beginnt:
„Are cows pink? ‚No,’ says the positivist, ‘they are black and white and brown – and sometimes combinations thereof.” But those who have had direct experience with cows know they can be pink. We have seen them. At sunset, when the sky over a Wisconsin field is rosy and glowing, cows are pink. At that moment and in that particular context, the description of pink for cows is really true. This is phenomenology. True knowledge is relative.“
Man sieht: So geht´s auch!
Zwei Traditionen, die innerhalb der deutschsprachigen systemisch-familientherapeutischen Forschungsszene eine wichtige Rolle spielen, sind in diesem aus den Vereinigten Staaten stammenden Band überhaupt nicht vertreten, nämlich zum einen die auf naturwissenschaftlichen Selbstorganisationstheorien fußende Erforschung strukturell-temporärer Zusammenhänge komplexer bio-psycho-sozialer Systemebenen, die mit Namen wie Günter Schiepek, Wolfgang Tschacher, Ewald Johannes Brunner oder Jürgen Kriz verbunden ist; zum anderen fehlen aus den sozialwissenschaftlichen, soziologischen Systemtheorie her kommende Metareflexionen zur Theorie angemessenen Umsetzbarkeit von Forschung vor dem Hintergrund von Konstruktivismus, die mit Namen wir Dirk Baecker, Rolf Arnold oder Kurt Ludewig verbunden sind. Dieses Fehlen ist Hinweis darauf, dass diese Traditionen ein Spezifikum der deutschsprachigen systemisch-familientherapeutischen Landschaft sind (wenngleich sie natürlich in benachbarten, etwa neuro- und sozialwissenschaftlichen, Disziplinen verkommen).
Der Vorteil an dieser spezifischen Entwicklung innerhalb der deutschsprachigen systemisch-familientherapeutischen Forschungsszene ist, dass hier zum einen Komplexität und Rekursivität insofern ernst genommen werden, weil etwa mittels Aufzeichnungen mit bildgebenden Verfahren oder hochfrequenten Erfassungen von Symptomparametern verdeutlicht wird (Stichwort: Synergetisches Navigationssystem), dass soziale Systeme nicht isoliert von ihrer biologischen und psychischen Umwelt betrachtet werden sollten; zum anderen, weil nicht unter den Tisch gekehrt wird, dass aus einer systemtheoretischen Tradition her kommend erkenntnistheoretisch nicht so ohne weiteres getan werden kann, als seien Forschungsmethoden voraussetzungslos und kontextfrei (Stichwort: Kybernetik 2. Ordnung).
Der Nachteil ist allerdings, dass Praktiker dabei den Eindruck gewinnen, dass das Führen von ein paar Interviews mit Patienten oder Durchführung einer kleinen Fragebogenuntersuchung innerhalb ihres Praxisfelds nichts mit systemischer Forschung zu tun hat, da etwa zu wenig die komplexen Wechselwirkungen mit weiteren Variablen oder die epistemiologische Rahmung berücksichtigt wird. Der vorliegende Band macht jedoch deutlich: Wer transparent und methodologisch nachvollziehbar und stringent darlegen kann, warum er welche Forschungsmethode für welche Fragestellungen, mit welchem Vorgehen gewählt hat, der ist Teil des wissenschaftlichen Diskurses im systemisch-familientherapeutischen Feld. Nicht die Forschungsmethode definiert hier systemische Forschung, sondern ausschlaggebend ist die Methodenangemessenheit für die Fragestellung (die mehr oder weniger systemisch sein kann, wobei völlig unsystemische Fragestellungen im psychosozialen Feld schwer vorstellbar sind, da dieses durch soziale Dimensionen zutiefst durchdrungen erscheint) sowie die Orientierung an guter und redlicher Forschungspraxis.
M. Ochs