Der vorliegende Band aus der Kohlhammer-Verlag Reihe „Psychotherapie in Psychiatrie und Psychosomatik“ trägt den passenden Titel „Der psychotherapeutische Prozess“ – passend insofern, als dass die im Titel anklingenden sowohl psychodynamischen als auch systemwissenschaftlichen Konnotationen realisiert werden; tatsächlich repräsentiert dann auch das Herausgeberteam diese unterschiedlichen Expertisen: Isa Sammet hat als Fachärztin und Dipl.-Psychologin einen psychodynamischen Hintergrund, Gerhard Dammann ist u.a. Psychoanalytiker und Günter Schiepek ist psychotherapeutischer Systemwissenschaftler.
Die 18 Kapitel des Bandes sind in vier Themenbereiche unterteilt sind. Im ersten Themenbereich „Veränderungsprozesse in Psychotherapie: Komplex und selbstorganisiert“ plädiert Günter Schiepek dafür, Psychotherapie als selbstorganisierten Prozess bio-psycho-sozialer Systeme zu konzeptualisieren und entsprechend Mehrebenen-Forschung zu betreiben (z.B. parallel Therapiedynamik und Gehirnaktivität zu messen), zeigen Guido Strunk et al., dass bei wesentlichen F-Diagnosen die zeitliche Veränderung der Symptomatik und der Verhaltensdynamik interindividuell nicht langfristig prognostizierbar ist – was als starkes Argument dafür gilt, dass Selbstorganisation am Werk ist, und unternimmt Antje Gumz den Versuch, Krisen in der therapeutischen Beziehung in psychodynamischen Psychotherapien zu konzeptualisieren mittels der Zusammenführung der synergetischen Theoriebausteine Makroebene („shape of change“ im Prozess) und Mikroebene (Merkmale einzelner Sitzungen).
Im zweiten Themenbereich geht es um das methodische Vorgehen, mit Prozessmonitoring und therapeutischem Feedback zu arbeiten. Hierzu stellen Benjamin Aas und Günter Schiepek zunächst den aktuellen Stand des Synergetischen Navigationssystems (SNS) vor – ein Computersystem, das genau dieses hochfrequente Prozessmonitoring und Rückmeldemöglichkeiten an TherapeutIn und PatientIn ermöglicht. In den folgenden Beiträgen zu diesem Themenbereich werden dann Anwendungsbeispiele hierzu vorgestellt, z.B. im Kontext der Suizidprävention, der Sucht- und Psychotherapie, sowie der Begleitung von Re-Integrationsprozessen. Spannend sind hier auch vorgestellte Ansätze, die Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD) mit Ressourcenerfassung, Systemmodellierung und Prozessmonitoring zu kombinieren, oder die Nachzeichnung von selbstorganisierten Veränderungsprozessen mittels Fallvignetten.
Der dritte Themenbereich widmet sich dann – ausgehend von ihrer in der Psychotherapieforschung ermittelten Bedeutsamkeit – der therapeutischen Beziehung im therapeutischen Prozess. Franz Caspar steuert hierbei eine verhaltenstherapeutische Perspektive bei, indem er u.a. die motivorientierte Beziehungsgestaltung fokussiert. Martin Rufer betrachtet in seinem Beitrag zu dem Themenbereich die Bedeutung von Beziehungen als Angelpunkt für Selbstorganisationsprozesse. Isa Sammet vergleicht abschließend die therapeutische Beziehung aus tiefenpsychologischem und synergetischem Blickwinkel.
Der letzte Themenbereich beschäftigt sich mit „Gestalt und Gestaltung des therapeutischen Prozesses“ in diverser Hinsicht, etwa im Kontext von der Behandlung von Persönlichkeitsstörungen, bezüglich der Frage von, im psychodynamischen Sinne, Konflikt oder Struktur in der OPD-Diagnostik, hinsichtlich des Zusammenhangs von interaktiven Beziehungsmustern und gelingenden therapeutischen Prozessen, bezogen auf die Konzeptualisierung des psychotherapeutisch-psychodynamischen Gesprächs mittels der Rekonstruktion von Rollenzuweisung und Rollenübernahme sowie der Verkörperung von Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessen sowie der Perspektive integrativer Psychotherapieansätze (z.B. Grawes Allgemeine Psychotherapie).
Resümierend kann der vorliegende Band als illustratives Beispiel dafür betrachtet werden, welche Überlegungen und Forschungsansätze sich ergeben, wenn man eine systemwissenschaftlich-synergetische (quasi als Meta-)Perspektive einnimmt, um Psychotherapie, und zwar – und das ist für den Band entscheidend – verfahrensübergreifend, zu konzeptualisieren. Dezidiert wird ein Ansatz vermieden, der systemtheoretische Blickwinkel heranzieht, um Systemische Therapie, verstanden als distinktes psychotherapeutisches Verfahren, theoretisch zu untermauern. Diese Herangehensweise mag inhaltlich und wissenschaftlich nachvollziehbar und gar zwingend sein, berücksichtigt aber nicht den Sachverhalt, dass die psychotherapeutische Verfahrensorientierung weiterhin eine fach-, berufs- und gesundheitspolitische Realität darstellt – und systemtheoretische Überlegungen eben vor allem im Kontext Systemischer Therapie verortet werden. Gerade in der aktuellen Diskussion um die sozialrechtlich Anerkennung Systemischer Therapie in Deutschland kann es dadurch zu Irritationen kommen – so spannend und lesenswert die einzelnen Beiträge auch sein mögen.
Matthias Ochs