Wer sich einen Überblick verschaffen möchte zur Frage, was Forschung aus einem sozialkonstruktionistisch-dialogischen Blickwinkel möglicherweise bedeuten kann, dem ist der aus 12 Kapiteln, die sowohl theoretische als auch im Ansatz praxisorientierte Perspektiven eröffnen, bestehenden Herausgeberband von Gail Simon und Alex Chard zu empfehlen. Gail Simon, Phd, leitet das Bezahl-Promotionsprogramm für systemische Praxis an der Universität Bedfordshire/UK (Infos unter: http://www.beds.ac.uk/research-ref/rgs/programmes/profdoc/pdsp). Alex Chard lehrt ebenfalls an der Universität in Bedfordshire/UK systemische Praxis in einem Soziale Arbeit-Master. Diese Empfehlung muß allerdings mit einem Warnhinweis versehen werden: Wer nach „How to do“-Anleitungen sucht, also wie nun step by step ganz konkret sozialkonstruktionistisch-systemisch geforscht werden kann, der wird enttäuscht werden – denn solche Vorgaben sind (leider) nicht zu finden.
Die Beiträge des Bandes sind in zwei Teile geordnet, der erste Teil heißt „Systemic Methodology“, der zweite Teil „Innovations in Systemic Inquiry“. Die Benennung des ersten Teils erscheint ein wenig unglücklich, da diese in einem Forschungsband die Beschreibung systemischer Forschungsmethoden erwarten läßt. Tatsächlich werden in den Beiträgen des ersten Teils, die von prominenten sozialkonstruktionistisch-dialogischen SystemikerInnen, wie Gail Simon selbst, John Shotter, Sheila McNamee oder Harlene Anderson verfasst wurden, jedoch vor allem grundlegende Überlegungen – hier eben in einem Sammelband in gebündelter Form – zu Haltungen und Perspektiven zu Forschung aus einem sozialkonstruktionistisch-dialogischen Blickwinkel beschrieben, wie etwa eine relationale Forschungsethik, relationale Reflexivität oder die Einbeziehung von Intuition sowie autoethnografischen Aspekten. Was aber das ganz konkrete Forschungsvorgehen angeht, so sind Hinweise hierzu eher „zwischen den Zeilen“ zu finden; so zeigt etwa Gail Simon ein mögliches forscherisches Vorgehen im Rahmen ihres Verständnisses von „Systemic Inquiry“ auf: Nach Supervision mit einer Supervisandin hatte sie ein ungutes Gefühl; dieses Gefühl bearbeitete sie, indem sie verschiedene innere Stimmen hierzu verschriftlichte; diese Verschriftlichung gab sie der Supervisandin, die wiederum als Antwort hierauf einen Text verfasste und diesen auch in der nächsten Supervisionsstunde vorlaß. Dieser Antwort der Supervisandin habe nun, so Gail Simon, die weitere Arbeit mit der Supervisandin dann wiederum bedeutsam beeinflußt. Es wird also auf qualitative Forschungs-/Interventionsmethoden zurückgegriffen, um den Arbeitsprozess mit der Supervisandin zu illustrieren und zu stimulieren; hierbei wird die Verwobenheit von Forschung und Intervention deutlich – ein weiterer grundlegender Aspekt eines sozialkonstruktionistisch-dialogischen Forschungsverständnisses. Es wird aber auch weiteres deutlich, nämlich zum einen, dass sozialkonstruktionistisch zu forschen oft bedeutet, qualitative Methoden, welche auch immer, einzusetzen, und das sozialkonstruktionistische Moment darin besteht, mit einer bestimmten Haltung zu forschen (den „beforschten“ Subjekten zu begegnen, dem Transparentmachen der eigenen Position im Forschungsdiskurs, der Reflexion zu den Beziehungsauswirkungen der Resultate u.ä.); zum anderen erscheint es so, dass in diesem Band systemisch mit sozialkonstruktionistisch-dialogisch gleichgesetzt wird – ein Kalkül, das unzulässig ist, da es die Bandbreite der Forschungsansätze (wie etwa die Arbeit mit dem Synergetischen Navigationssystem, fallrekonstruktive Familienforschung, experimentelle Evaluationsforschung oder Familienexperimente), die sich als systemisch begreifen (vgl. Ochs & Schweitzer, 2012), völlig ignoriert.
Im zweiten Teil werden konkrete Anwendungsbeispiele sozialkonstruktionistischer Forschungs-/Interventionsprojekte vorgestellt. Vikki Reynolds, Aktivistin und Professoren in Seattle/Vancouver, zeigt, wie sie mit dem Rhizom-Ansatz, ein zentrales Konzept in der Philosophie von Gilles Deleuze und Félix Guattari, durch „Untergrundaktivitäten“ Solidaritätspraktiken in Kontext der Lebenswelten der Klienten anregt. Das forscherische Moment wäre etwa die Reflexion des Prozesses der Entwicklung einer solidarität fördernden Perspektive und Praxis mittels der Rhizom-Metapher; ein Produkt zeichnerische Illustrationen der Metapher, die auch im Buch zu finden sind. Das Schreiben von Essays als forscherisches Unterfangen, wie dies Lisen Keppe von der schwedischen Universität in Uppsala in ihrem Beitrag vorschlägt, in denen die eigene Vielstimmigkeit, die eigene Verortung, der eigene Kontext thematisiert wird, scheint ein wichtiges methodisches Moment zu sein im Rahmen sozialkonstruktionistischer Forschung; hier scheint sie autoethnografisch-qualitativen Forschungsansätzen verwand – also Ansätzen, die die eigene Person des Forschers als Subjekt in das forscherische Interesse rücken. Eine weitere Nähe scheint vorhanden zu sein zwischen aktionsforscherischen und sozialkonstruktionistischen Ansätzen, wie in dem Artikel der schwedischen Sozialarbeiterin Ann-Margreth Olssen deutlich wird. Dies ist insofern gut nachvollziehbar, da Aktionsforschung ausgehend vor allem von Kurt Lewin, sich auch als Kritik verstanden hat an einem vermeintlich verantwortungsfreien Forschen aus hehrer objektiver Perspektive – eine Haltung, die auch immer wieder in den Beiträgen des Buches sehr betont wird.
Wer sich in die grundlegenden Perspektiven sozialkonstruktionistischen Forschens einarbeiten möchte, ist mit diesem Band gut bedient; wer ein konkretes How-to-do des sozialkonstruktionistischen Forschens sucht, der wird möglicherweise ein wenig enttäuscht sein… Aber ein rezeptbuchartige Anleitung zum Forschen würde wahrscheinlich auch einer sozialkonstruktionistischen Haltung widersprechen…
Matthias Ochs