Diese Definitionen beinhaltet einige wesentliche Momente, die sich gut mit konstruktivistisch ausgerichteten Konzepten von Systemischer Forschung vereinbaren lassen (siehe http://www.systemisch-forschen.de/was_ist_systemische_forschung), wie etwa die Fokussierung auf die persönliche Erfahrung (der Konstruktivismus geht bekanntlich davon aus, dass jegliche Form von Erkenntnis naturgemäß subjektiv ist) oder die Behandlung von Forschung als sozialen Akt (als „soziale Konstruktion“ in der Sprache des Konstruktionismus). Wenn man Kurt Ludewigs Überlegungen zu Systemischer Forschung heranzieht, so wird die mögliche Verwandtschaft von systemisch-konstruktivistischen Ansätzen und Autoethnographie mehr als augenscheinlich: „Eine sich systemisch verstehende Forschung schaut nicht in eine gegebene Welt hinein, um ihr ihre Regelmäßigkeiten zu entlocken, sondern sie nimmt mit in ihr Kalkül, dass alles Erkannte das Ergebnis von Unterscheidungsprozessen ist, die vom Beobachter, sprich: Forscher, generiert werden. Mit anderen Worten: Eine systemische Forschung müsste eine verantwortbare Forschung sein, die den Forscher als Hauptbeteiligten mit einbezieht“ (siehe http://www.systemisch-forschen.de/was_ist_systemische_forschung). Epistemologisch bezieht sich Autoethnographie als sozialwissenschaftliche Forschungsmethode explizit auf postmoderne Erkenntnistheorien, wie etwa den sozialen Konstruktionismus: „The freedom of a researcher to speak as a player in a research project and to mingle his or her experience with the experience of those studied is precisely what is needed to move ininquiry and knowledge further along“ (Clandinin & Connelly, 1994).
Typischerweise werden mittels autoethnographischer Forschung eher „schwierige“, gesellschaftlich sensible Themen behandelt, z.B.: Kindheit mit einer schizophren erkrankten Mutter (Foster et al., 2005), Teenager-Schwangerschaft (Muncey, 2005), Chronische Schmerzen (Neville-Jan, 2003), Politischer Widerstand im sozialistischen Rumänien (Kideckel, 1997), Migration (Kraft Alsop, 2002, Chang, 2008). Ab und an finden sich als Gegenstandsbereich autoethnografischer Forschung aber auch weniger „schwierige“ Themen, z.B. Vater-Sohn-Beziehung (Herrmann, 2005), berufliche Veränderung (Humphreys, 2005), Aufwachsen auf dem Land (Reed-Danahay, 1997). Selten ist ein Forschungsprojekt selbst direkter Bezugspunkt, ein Beispiel hierfür ist jedoch ein Projekt zur Entwicklung des Hypermedia-Designs von Lern CD-ROM´s (Duncan, 2004).
Bezüglich methodischem Vorgehen variieren autoethnographische Forschungsprojekt stark voneinander: Von wenig strukturierten sehr persönlich-introspektiven Narrationen am einen Ende des Kontinuums bis zu bis zu methodisch stringenten und transparenten Datenerhebungs-, auswertungs- und interpretationsvorgehen am anderen Ende. Es existieren verstreut zwar einige wenige Aussagen dazu, wie konkret methodisch beim autoethnografischen Forschen vorgegangen werden sollte; Beispiele hierfür sind etwa Duncan (2004) (Main data source: A reflective journal, kept over a 1-year period, consisting of handwritten entries created twice weekly ans avereging two pages in length. Entries were numbered and indexed. Supporting data sources: E-mails; Memos and letters; Storyboard and graphic sketches; Computer screen images; Notes to self and from other design members; Government documents; Technical logs), Ellis & Bochner (2000) (Use of personal writing and reflection; Stories of others, gathered through a series of highly interactive and even therapeutic interviews with individuals and groups; Understanding of the relevant literature, especially knowledge of the gaps in the literature that can be answered only through personally focused inquiry) oder Muncey (2005) (Snapshots, artifacts/documents, metaphor, psychological and literal journeys for reflecting). Dennoch zeichnet sich Autoethnographie nicht selten durch ein unklares methodisches Vorgehen aus, „…somewhat lacking in concrete information about the method and how someone new to it might proceed.“ (Wall, 2008, S. 5).
Umso erfreulicher ist die Existenz des vorliegenden Bands von Heewon Chang (Professorin für Pädagogik und Organisationsführung an der Eastern Universita in Pennsylvania/USA) „Autoethnography as Method“. Denn hier finden sich für Studenten, an Praxisforschung Interessierte und vor innovativen sozialwissenschaftlichen Methoden nicht zurückschreckende Forscher ein Beispiel für eine konkrete Anleitung zum Vorgehen. Wobei bedacht werden muss, dass es kein generelles, unter Sozialwissenschaftlern konsentiertes Vorgehen für Autoethnographie gibt. Es existiert vielmehr eine Vielzahl an autoethnografischen Forschungswegen – derjenige von Chang stellt einen davon dar. Ihr Schwerpunkt liegt auf dem systematischen Sammeln, Auswerten und Inventarisieren persönlicher Erinnerungen/autobiorafischer Momente. Hierzu schlägt sie folgende Forschungsstrategien vor. Autobiographical Timeline (als Übung hierzu formuliert sie beispielsweise folgende Anleitung: “Considering your research focus, select and chronologically list major events or experiences from your life. Include the date and brief account of each item. Select one event/experience from your timeline that led to significant cultural self-discovery. Describe its circumstances and explain why it is important in your life”); Annual, Seasional, weekly or Daily Routines; Proverbs; Rituals and Celebrations; Mentors (Übung hierzu: “List five mentors, in order of importance, who have made significant impacts on your life ad briefly describe who each person is. Select one and explain how this person has influenced you”) und Cultural Artefacts.
Einsatzmöglichkeiten dieses von Chang vorgelegten autoethnografischen Forschungsvorgehens wären etwa die wissenschaftliche Erkundung der eigenen Entwicklung als systemischer Sozialarbeiter, des persönlichen Erlebens des Forschungsprozesses in einem größeren Forschungsprojekt oder der Implementierung einer neuen Therapiemethode in eine Tagesgruppe. Autoethnografie wird in Deutschland noch sehr selten im Forschungskontext eingesetzt. Hier könnten systemisch ausgerichtete Forschungsvorhaben eine Vorreiterfunktion einnehmen – denn die Methode „passt“ zunächst einmal sehr gut zu systemisch-konstruktivistischen (Praxis-)Konzepten. Ihre Möglichkeiten innerhalb dieser Konzepte auszuloten, kann eine sehr aufregende, spannande und lohnende Aufgabe sein – und mit dem schönen, strukturierten Buch von Professor Chang zudem wissenschaftlich fundiert.
Matthias Ochs, Wiesbaden