Der vorliegende Band aus der Carl Auer-Reihe „Systemische Forschung“ fußt auf der Dissertation der norddeutschen systemischen Lehrtherapeutin Renate Jegodtka. Sie widmet sich hier einem sehr sensiblen und sehr wichtigen Thema, nämlich der Frage der sekundären berufsbedingten Traumatisierung durch die psychosoziale Arbeit mit Menschen, die selbst Traumatisierungen erfahren haben im Kontext von man-made-disasters, wie etwa im Zusammenhang mit dem historischen Nationalsozialismus.
Im theoretischen Teil der Arbeit nähert sich die Autorin dem Thema an, indem sie versucht konstruktivistische Positionen – der Konstruktivismus stellt bekanntlich eine der erkenntnistheoretischen Säulen systemischen Arbeitens und Forschens dar – bezüglich traumatischer Ereignisse und Erlebnisse zu reflektieren. Hierbei arbeitet sie die Schwierigkeiten heraus, die entstehen, wenn eine konstruktivistische Position trivialisiert und „überzogen“ wird, nämlich wenn etwa traumatische Erfahrungen lediglich als kreative Konstruktionsleistungen der Betroffenen ohne bedeutsame Bezüge auf reale Auslöser und Kontexte konzeptualisiert wird. Des weiteren skizziert sie Aspekte eines systemischen Traumaverständnisses und rekurriert in diesem Zusammenhang naheliegend auf Antonovskys Salutogenese-Konzept, das ja ebenfalls im Zusammenhang mit nationalsozialistischen Traumatisierungen entstand.
Informativ und lesenswert sind die weiteren Aufbereitungen zum Stand der Forschung, was Traumabegriff, Traumakonzepte und sekundäre Traumatisierung angeht. Auch hierbei geht die Autorin nochmals dezidiert auf systemische Aspekte ein, wie sozio-politische Dimensionen (also der makrosystemische Kontext), auf gemeindeorientierte Ansätze in der Traumaarbeit, auf das Konzept der „traumadeterminierten Systeme“ sowie die mehrgenerationale Perspektive traumatischer Prozesse.
Im methodischen Teil zeigt Renate Jegodtka dann auf, wie sie im Rahmen eines gängigen qualitativen Forschungsanasatzes (Grounded Theory, Interviews zur Datenerhebung, metaphorische Methoden) systemische Elemente versucht zu realisieren, wie etwa die Berücksichtigung mehrerer Systemebenen (Politisch-gesellschaftliche, organisationale/Teamebene, Angehörige/ soziale Netzwerke der Interviewten, intrapsychische Aspekte) und deren Zusammenspiel, Verwendung systemischer Fragen im Interviewleitfaden, autoethnografische Momente (Reflexionen zur eigenen Position/ Haltung innerhalb des Forschungsgeschehens).
Neben diesen forschungsmethodischen Überlegungen und gelungenen Auseinandersetzungen mit der Frage, wie „systemisches“ im Rahmen eines qualitativen Forschungsvorgehens realisiert werden kann, erscheinen auch die Ergebnisse der Interviews sehr ertragsreich, da sie Hinweise geben dafür, was Aspekte/Ressourcen auf verschiedenen Systemebenen darstellen, die hilfreich dabei sein können, sekundäre Traumatisierungsprozesse zu erkennen, zu benennen, zu bewältigen bzw. diesen präventiv zu begegnen. Gleichzeitig reflektiert die Autorin Grenzen ihrer Ergebnisse und ist sich bewußt, dass Traumatisierungen im Zusammenhang von man-made-desasters nicht einfach so übertragen werden können auf sämtliche Traumatisierungsphänomene, denen im psychosozialen Bereich begegnet werden kann – auch wenn der Anschluss ihrer Überlegung an die allgemeine Traumapädagogik naheliegt.
Diese schöne Arbeit, die ein gelungenes Beispiel dafür darstellt, wie im Rahmen empirischer Sozialforschung sowohl in Theorie als auch in der Forschungsmethodik ohne weiteres auch systemisch Aspekte realisiert werden können und eine Abschlußarbeit dadurch auch „systemisch“ wird, zeigt die großen Herausforderungen, die bestehen, im Kontext von Traumatisierung Sinn herzustellen und Empowerment zu betreiben – eine Herausforderung, vor der allerdings im Grunde jeder steht, der im psychosozialen Bereich tätig ist; denn Traumatisierungen, ob sekundär oder primär, sind in Zeiten von gesellschaftlicher Fragmentierung, Migration und sozioökonomischer Disparität quasi ubiquitär – und „weggucken“ – das machen die Befunde von Jagodtka auch deutlich – „gilt nicht“…
Matthias Ochs